Chinese winter swimmers celebrate the new year's day of 2019 in the icy water of Chaohu lake in Anhui province.
12 Minuten Lesedauer

Druck auf Exportwirtschaft und Jobmarkt steigt: 2019 wird schwierig für China

China Update 1/2019

METRIX

Von solchen Beträgen können Verkehrs- und Bahnbetriebe in Deutschland nur träumen: 860 Milliarden chinesische Yuan (110 Milliarden EUR) hat Chinas Nationale Reform- und Entwicklungskommission seit Anfang Dezember für Schienenbauprojekte genehmigt. Darunter sind neue U-Bahnstrecken in Shanghai und Wuhan sowie regionale Bahnlinien in der Provinz Jiangsu. 6800 Kilometer Schienen sollen allein in diesem Jahr gelegt werden, davon sind 3200 Kilometer Strecken für das Hochgeschwindigkeitsnetz.

Thema der Woche

Druck auf Exportwirtschaft und Jobmarkt steigt: 2019 wird schwierig für China

Das Jahr 2019 könnte für die chinesische Wirtschaft höchst schwierig werden. Es gibt nicht nur in den herstellenden Betrieben große Unsicherheit über die Wachstumsaussichten der weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft. Zurzeit verhandeln die USA und China wieder über Wege zur Lösung des Handelskonflikts. Sollten die Gespräche in diesem Jahr keine Fortschritte bringen, droht Chinas riesigem Exportsektor der Einbruch, massenhafte Entlassungen könnten die Folge sein. Für Chinas Führung steht viel auf dem Spiel: Sie wird mit allen Mitteln versuchen, den Arbeitsmarkt stabil zu halten, denn steigende Arbeitslosigkeit könnte zu sozialen Unruhen führen.

Beijing macht sich Sorgen. Das kam kürzlich auch auf der Zentralen Arbeitskonferenz zur Wirtschaftslage deutlich zum Ausdruck, auf der die Regierung Hilfen für unter Druck geratene Unternehmer in Aussicht stellte und im Vergleich zu den Vorjahren deutlich verhaltenere Einschätzungen zur allgemeinen Wirtschaftsentwicklung abgab. Das internationale Umfeld sei kompliziert und die Wirtschaft werde sich Druck ausgesetzt sehen, heißt es überraschend kritisch in einer von der chinesischen Regierung verbreiteten Zusammenfassung des Treffens.

Auch in den herstellenden Betrieben werden schwächere Geschäfte erwartet: Zum ersten Mal seit 2016 fiel im Dezember der Einkaufsmanager Index unter 50 Punkte, welches eine negative Stimmung reflektiert.

Bereits 2018 war Chinas Wirtschaftswachstum abgeflaut, auch wegen der Anstrengungen Beijings das rasante inländische Kreditwachstum zu bremsen. Das Wachstumsziel von “etwa 6,5 Prozent” wird China erreichen, obwohl sich das Wachstum im zweiten Halbjahr abgeschwächt hatte. Während im dritten Quartal des Bruttoinlandsprodukts (BIP) noch um 6,5 Prozent wuchs, könnte es im vierten Quartal – die Zahlen werden im Januar veröffentlicht – sogar unter dieser Marke gelegen haben.

Der Arbeitsmarkt hat sich bislang als recht widerstandsfähig erwiesen. Bis November 2018 wurden in den Ballungsgebieten fast 13 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen, mehr als die anvisierten zehn Millionen. Doch drängt eine steigende Zahl von Universitätsabsolventen – im vergangenen Jahr allein 8,4 Millionen – auf den Arbeitsmarkt. Diese oft aus der chinesischen Mittelklasse stammenden Arbeitssuchenden hoffen auf gute Karriere- und Verdienstmöglichkeiten. Sollten ihre Hoffnungen enttäuscht werden, könnten sie ihrer Unzufriedenheit eines Tages öffentlich Luft machen – ein Szenario, das die chinesische Regierung unbedingt vermeiden will.

Die schwierigen Verhandlungen im Handelsstreit mit den USA kommen für China ausgerechnet in dieser Phase der wirtschaftlichen Schwäche zur Unzeit. Eine weitere Eskalation des Konflikts würde das Wachstum weiter verlangsamen und die Arbeitslosigkeit unweigerlich ansteigen lassen. Bereits 20 chinesische Provinzen sahen sich gezwungen, Unterstützungsprogramme einzurichten. Nach chinesischen Medienberichten ist der Arbeitsmarkt so schlecht wie noch nie vor dem chinesischen Neujahr.

MERICS-Analyse: Maximilian Kärnfelt und Max J. Zenglein analysieren regelmäßig die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft im Tracking-Projekt „MERICS Economic Indicators“. Die Analyse für das 4. Quartal 2018 und ein detaillierter Ausblick auf 2019 erscheinen Ende dieses Monats.

China und die Welt

Von Taiwan bis zum Weltraum: China geht offensiv und ehrgeizig ins neue Jahr

China wird auch im neuen Jahr seinen Anspruch umzusetzen suchen, bis 2049 eine globale Macht zu sein, die in ihrer Nachbarschaft und darüber hinaus militärisch präsent ist. Das haben einige Ereignisse und Ankündigungen gleich zum Jahreswechsel deutlich gemacht. Die Volksbefreiungsarmee (VBA) müsse bereit sein zu kämpfen, hob Staats- und Parteichef Xi Jinping in einer Rede hervor, in der er auch nicht ausschloss, dass China die Wiedervereinigung mit Taiwan mit Gewalt herbeiführen könnte. Die erfolgreiche Landung einer chinesischen Sonde auf der Rückseite des Mondes illustrierte überdies, dass China jenseits der traditionellen Machtbereiche auch im Weltraum mit den USA in einen Wettbewerb treten will.

Bereits seit einiger Zeit tritt China international als selbstbewusster Akteur in Erscheinung; dies dürfte sich auch 2019 nicht ändern. Am 2. Januar rief Xi in einer Rede zum 40. Jahrestag der „Botschaft Chinas an die Landsleute in Taiwan“ – welche die Grundlagen der Politik Beijings gegenüber der als abtrünnige Provinz betrachteten Inselrepublik bildete – zu einer friedlichen Wiedervereinigung auf. China werde die religiösen und rechtlichen Freiheiten Taiwans nach dem Modell „Ein Land, zwei Systeme“ respektieren. Xi sagte aber auch, dass Gewalt als Mittel zum Erreichen der Wiedervereinigung nicht ausgeschlossen sei. Es war Xis erste längere Rede über die Taiwan-Frage und er bekräftigte im Grunde die Position, die Beijing seit Jahren in der Wiedervereinigungsdebatte hat. Es ist zu erwarten, dass die VBA ihre militärischen Aktivitäten in der Nachbarschaft der Insel intensivieren wird.

Am 5. Januar äußerte sich Xi bei einem Treffen der Zentralen Militärkommission in Beijing: Die VBA müsse immer bereit sein zur Schlacht, sagte er. Denn die Welt befinde sich in einer „Phase drastischer Veränderungen und China in einer wichtigen Phase für die Entwicklung des Landes“. Kurz zuvor hatte die „PLA Daily“, das Sprachrohr der Volksbefreiungsarmee, die Prioritäten der chinesischen Armee für das neue Jahr in einem Leitartikel zusammengefasst. Unter anderem nannte der Autor verstärktes Training und Vorbereitungen für den Krieg.

Die VBA dürfte dieser Kursvorgabe folgen und auch die Entwicklung neuer Fähigkeiten vorantreiben, auch indem sie für die Zivilanwendung entwickelte Technologien militärisch nutzbar macht. Unterstützung erhält die chinesische Armee aus der einheimischen Privatwirtschaft, von deren innovativen Entwicklungen sie auch profitieren will.

Die Zusammenführung ziviler und militärischer Anwendung ist von Xi zur nationalen Strategie erklärt worden. Das chinesische Raumfahrtprogramm ist Teil dieser Anstrengungen. Am 3. Januar landete, viel beachtet von der internationalen Öffentlichkeit, die chinesische Raumsonde „Chang’e-4“ auf der Rückseite des Mondes, auf der zuvor noch nie ein Raumfahrzeug gelandet war. Beijing will nun seine Präsenz im All durch weitere Mond-Missionen ausbauen. Bis 2022 will China eine eigene Raumstation errichten in Konkurrenz zur Internationalen Raumstation (ISS), an der das Land nicht beteiligt ist.

MERICS-Analyse: “Auf dem Weg zu technologischer Vorherrschaft: Was Chinas Streben nach fortschrittlichen zivil-militärischen Technologien für Europas Wirtschaft und Verteidigungspolitik bedeutet”. Bericht in englischer Sprache von Helena Legarda and Meia Nouwens (IISS) im Rahmen des China Security Project.

Innenpolitik, Gesellschaft und Medien

Anlässe zum Feiern und für strengere Kontrollen: 70 Jahre Volksrepublik und 30 Jahre Tianan-men

2019 wird nicht nur der 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China gefeiert, sicherlich ein Anlass für festliche Reden und ehrgeizige Ankündigungen der chinesischen Führung. Am 4. Juni steht ein Jubiläum an, dass die offizielle chinesische Geschichtsschreibung gerne unterschlägt: An jenem Tag vor 30 Jahren wurde die Protestbewegung auf dem Tiananmen-Platz in Beijing gewaltsam niedergeschlagen. Die Kommunistische Partei Chinas (KPC) wird erhebliche Anstrengungen unternehmen, um jegliche Art von Gedenken aus dem Anlass zu unterbinden.

Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping wird sich im Jubiläumsjahr nicht nur an seinen politischen Erfolgen, sondern auch an seinen historischen Vorgängern messen lassen müssen. 1949 hielt Mao Zedong seine Gründungsrede für die Volksrepublik und schrieb damit Geschichte. Deng brachte 1979 die ersten sichtbaren Projekte der Reform- und Öffnungspolitik auf den Weg, wie die Einrichtung der Sonderwirtschaftszone Shenzhen. Er sicherte sich damit einen Platz in Chinas Geschichtsbüchern. Für Xi kommt es nun darauf an zu beweisen, dass er die von ihm angekündigte „neue Ära“ auch wirklich einleitet und China als globale politische und wirtschaftliche Macht etabliert.

Die KPC hat in den vergangenen Jahren zunehmend selbstbewusst ihren Machtanspruch formuliert. Doch die Sorge um die Stabilität ihrer Herrschaft treibt die Parteispitze weiterhin um. Jedes Jahr investiert die chinesische Regierung Milliarden in Maßnahmen zur „Wahrung der Stabilität“. Medienberichten zufolge übersteigen diese Ausgaben sogar den Verteidigungsetat.

Aus Sorge um politische und soziale Instabilität wird die chinesische Regierung 2019 verstärkt in den Krisenmodus gehen: Bereits im vergangenen Jahr war die ideologische Kontrolle verschärft worden, die Behörden gingen verstärkt gegen religiöse Gruppen vor und ließen in Xinjiang Umerziehungslager errichten. 2019 dürften sich diese Besorgnis erregenden Tendenzen noch verstärken.

An die Tiananmen-Proteste 1989 wird derzeit nur in Hongkong noch jährlich erinnert. In der Sonderverwaltungszone gelten bislang noch andere gesetzliche Regelungen, auch wenn Beijing seit einiger Zeit mehr Einfluss zu nehmen versucht. Die Hongkonger „Vereinigung für die Unterstützung patriotischer demokratischer Bewegungen in China“ hat bereits angekündigt, sie werde vor dem Jahrestag ein „Museum des 4. Juni” eröffnen.

Der 4. Juni ist nicht der einzige heikle Jahrestag, der China 2019 bevorsteht: Am 10. März steht der 60. Jahrestag des Tibet-Aufstandes 1959 an, in dessen Folge der Dalai Lama aus seiner Heimat floh. Aus friedlichen Gedenkkundgebungen zur Erinnerung an diesen Aufstand entspannen sich 2008 in Tibet gewalttätige Unruhen. Im April ist es genau 20 Jahre her, dass Falun Gong in China verboten wurde, zahlreiche Mitglieder der Bewegung wurden systematisch verfolgt. Vor zehn Jahren dann brachen in Ürümqi, der Hauptstadt der Autonomen Region Xinjiang, Unruhen aus. Auch das anstehende Jubiläum 30 Jahre Mauerfall und weitere Jahrestage im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind Anlass für Beunruhigung in Beijing.

Wirtschaft, Finanzen und Technologie

Bilaterale Gespräche wecken Hoffnung auf Annäherung im US-chinesischen Handelsstreit

Gleich zum Jahresauftakt hat der seit Monaten eskalierende Handelskonflikt zwischen China und den USA ranghohe Unterhändler beider Seiten beschäftigt. Gespräche von Vertretern beider Länder in Beijing verliefen grundsätzlich positiv. Womöglich wird es später im Januar auf höherer Ebene weitere Verhandlungen geben. Die Zeit für eine Lösung des Konflikts wird knapp: wenn sich beide Seiten vor dem 2. März nicht annähern, werden höhere Zölle der USA auf einige chinesische Importe in Kraft treten.

Das Treffen in Beijing war das erste, seit US-Präsident Donald Trump am Rande des G20-Gipfels in Argentinien eine 90-tägige Frist verkündet hatte, um erneute Verhandlungen im Handelsstreit zu ermöglichen. Die Delegation Washingtons wurde von Jeffrey Gerrish geleitet, dem stellvertretenden Handelsrepräsentanten der USA. Eine Gelegenheit für Verhandlungen auf höchster Ebene könnte sich beim Weltwirtschaftsforum in Davos Ende Januar bieten, an dem Trump teilnehmen wird. Kurz darauf wird Chinas Vize-Premier Liu He nach Washington reisen.

Es gab auch andere, wenn auch kleine Zeichen für eine leichte Entspannung zwischen China und den USA: Noch während die US-Delegation in Beijing verhandelte, gab China einen umfangreichen Kauf von Sojabohnen aus den USA bekannt. Zudem erteilten die chinesischen Behörden Genehmigungen für den Import von fünf genetisch veränderten US-Saatprodukten.

Die Börsen reagierten positiv auf die Entwicklung: In Asien stiegen die Märkte überraschend zum dritten Tag in Folge an. Auch der New Yorker Dow-Jones-Index startete mit Gewinnen. Angesichts eines verlangsamten Wachstums ist der Handelskonflikt vor allem für China bedrohlich und wirkt sich bereits auf die Realwirtschaft aus. Seit 2018 haben die chinesischen Börsen und auch der Yuan erheblich an Wert eingebüßt, chinesische Unternehmen klagen über Rückgänge bei den Exportaufträgen.

Der europäische Blick

Thema Cybersicherheit könnte EU-chinesische Beziehungen belasten

Zwei groß angelegte Cyber-Angriffe auf europäische Ziele, hinter denen womöglich von China gesteuerte Hacker standen, könnten im neuen Jahr die Beziehungen zwischen der EU und China auf die Probe stellen.

Am 18. Dezember berichtete die „New York Times“, eine Eliteeinheit der chinesischen Volksbefreiungsarme habe mehr als drei Jahre lang die Kommunikation europäischer Diplomaten ausspioniert und sich Zugang zu sensiblen Wirtschafts- und außenpolitischen Daten verschafft. Die EU-Kommission untersucht derzeit noch die Vorwürfe. Wenige Tage später erhoben die USA und Großbritannien in einem zweiten Fall Anklage gegen mutmaßlich von der chinesischen Regierung unterstützte Hacker. Ihnen wird vorgeworfen, Cyberangriffe gegen internationale Firmen geführt zu haben, um an Geschäftsgeheimnissen zu gelangen.

Die Anklage eines US-Bezirksgerichts in New York richtete sich gegen eine Hackergruppe, die sich abgekürzt APT10 nennt. Zwei chinesischen Mitgliedern der Gruppe wird vorgeworfen, mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammengearbeitet zu haben. Der britische Außenminister Jeremy Hunt nannte den Angriff „einen der bislang schwerwiegendsten und umfassendsten Cyber-Angriffe gegen das Vereinigte Königreich und seine Bündnispartner“.

China gilt neben Russland als eines der wahrscheinlichsten Ursprungsländer für Cyber-Angriffe. Bereits 2015 formulierte Chinas Regierung im Weißbuch Verteidigung die Absicht, die Cyber-Fähigkeiten auszubauen. Im selben Jahr erklärte Beijing in einem Abkommen mit den USA und dem Vereinigten Königreich den Verzicht auf Aktivitäten wie Cyber-Diebstahl oder Cyber-Spionage. Allerdings war die Übereinkunft nicht rechtlich bindend. Ein ähnliches Abkommen schloss China 2017 mit Australien. Im Mai 2018 fanden auch mit Deutschland Beratung über Cybersicherheit statt; diese soll es künftig jährlich geben.

Auch Deutschland, Dänemark und Polen verurteilten die mutmaßliche chinesische Cyber-Spionage als Verstoß gegen die regelbasierte internationale Ordnung, welcher die Stabilität des Cyber-Raums und die Volkswirtschaften der betroffenen Länder bedrohe.

Berichten zufolge plant die EU nun eine schärfere Überprüfung chinesischer Technologiefirmen hinsichtlich möglicher Sicherheitsrisiken. Diese könnten besonders für die bevorstehende Versteigerung von 5G-Mobilfunklizenzen bedeutsam sein, da hier chinesische Firmen wie Huawei sich am Ausbau der Netze beteiligen wollen und auch maßgebliche Lieferanten für die technische Infrastruktur sind.

MERICS-Expertin Lucrezia Poggetti: „Die jüngsten Fälle von Cyber-Spionage stellen den Wert von nicht bindenden Cyber-Abkommen mit China in Frage. Sie zeigen auch, dass China sich internationalen Absprachen nicht verpflichtet fühlt. Die Pläne der EU, chinesische IT-Firmen schärfer zu überprüfen, sind ein guter erster Schritt. Doch um seine wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen zu schützen, muss Europa noch mehr in seine eigenen Cyber-Fähigkeiten investieren.“

Im Profil

Xiang Songzuo: Offene Worte der Kritik an Chinas wirtschaftspolitischem Kurs

Die Zahl ließ den Zuhörern vermutlich den Atem stocken: Auch wenn offizielle Schätzungen 2019 von einem Wachstum der chinesischen Wirtschaft von 6,5 Prozent ausgingen – real werde es nur bei mageren 1,67 Prozent liegen, sagte der Ökonom Xiang Songzuo Mitte Dezember auf einem Managerkurs an der Volksuniversität in Beijing. Xiang berief sich auf Berechnungen einer Forschergruppe eines „wichtigen Instituts“. Andere Kalkulationen, fügte er hinzu, gingen sogar von einer „negativen Wachstumsrate“ aus.

Mit seinem Vortrag unter dem Titel „Die größten Veränderungen seit 40 Jahren“ (四十年未有之大变局, EN: A Great Shift Unseen Over the Last Forty Years) gesellt sich der 53-Jährige zu einer noch kleinen Gruppe chinesischer Wirtschaftsexperten, die sich auch öffentlich über den Kurs Beijings beklagen. In der 25-minütigen Rede nutzte Xiang selbstkritische Töne, um zum „Nachdenken“ (反思) über die wirtschaftspolitischen Ereignisse des vergangenen Jahres aufzurufen. In mehreren Bereichen habe es „gravierende Fehleinschätzungen“ gegeben: Chinas offizielle Medien hätten im US-chinesischen Handelskonflikt China voreilig zum Sieger erklärt – „haben wir den Ernst der Lage verkannt?“, fragte Xiang. Auch die anhaltende Schwäche der chinesischen Wirtschaft und die Annahme, durch inländischen Konsum allein das Wachstum anzukurbeln, seien nicht genügend reflektiert worden.

Der aus der zentralchinesischen Provinz Hubei stammende Xiang war zwar immer schon für Offenheit geschätzt, gehört in China aber auch dem wirtschaftspolitischen Establishment an. Umso überraschender erscheint seine deutliche Kritik in dem Vortrag, der auf dem Portal YouTube mehr als 1,3 Millionen Mal angeklickt wurde. Bis vor kurzem war Xiang Chefökonom der wichtigen chinesischen Landwirtschaftsbank. Nach einem Wirtschaftsstudium unter anderem an der Columbia-University in den USA machte er eine steile Hochschulkarriere und arbeitete auch immer wieder in Bankinstitutionen, zum Beispiel als Experte für Währungspolitik in der chinesischen Zentralbank.

Seine Rede vor den Managern in Beijing schloss Xiang mit einem Appell an die chinesische Führung: Von der bevorstehenden Konferenz zum 40-jährigen Jahrestag des Beginns der Reform- und Öffnungspolitik müsse ein Signal für eine „Vertiefung der Reformen“ ausgehen. Geschehe dies nicht, „dann stehen der chinesischen Wirtschaft langfristig schwierige Zeiten bevor“. Die Ankündigungen von Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping müssen Xiang enttäuscht haben: Xi bekräftigte, die zentrale Kontrolle durch die Kommunistische Partei stärken zu wollen. Xiang, dessen engagierte Rede in China nicht offen zugänglich ist, war danach auf Anfrage der „New York Times“ für Kommentare nicht mehr zu erreichen.