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Kommentar
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Xi: „Zeit und Momentum stehen auf unserer Seite“

Der KP-Generalsekretär ruft seine Volksrepublik zur globalen Siegerin aus, empfiehlt sich für die Parteigeschichte als ewiger Steuermann und isoliert China immer mehr. Johnny Erling analysiert Xis Blick auf die Zukunft Chinas.

Chinas Parteichef überraschte sein Land mit einem neuen Leitmotiv: „Die Zeit und das Momentum sind auf unserer Seite“ (时与势在我们一边) sagte Xi Jinping am 11. Januar auf einer Versammlung von ZK-Funktionären und Provinzführern in der Parteihochschule in Beijing. 2021 werde ein Symboljahr für die Kommunistische Partei (KPC), die am 1. Juli den 100. Geburtstag ihrer Parteigründung gefeiert hat. Zugleich will Xi die nächste Phase für den Aufstieg der Nation zur sozialistischen Weltmacht vor Mitte des Jahrhunderts einleiten.

2020 wurde zum Wendejahr, nachdem die Volksrepublik die Covid-Pandemie überwinden und als erste große Wirtschaftsnation erneut durchstarten konnte. Lasst uns doch mal „Chinas Ordnung“ mit dem „Chaos im Westen“ vergleichen, sagte Xi. Nach Angaben der parteistaatlichen Nachrichtenagentur Xinhua und des Theoriemagazins „Hongqi“ spottete Xi über das voreilige Urteil vom „Ende der Geschichte“, das Politologe Francis Fukuyama 1989 nach dem Kollaps des Sowjetblocks fällte. Die Zeit, die für China arbeite, hätte dem „Ende der Geschichte ein Ende bereitet, die Theorie vom Zusammenbruch Chinas zusammenbrechen und die über das Scheitern des Sozialismus scheitern lassen.“

Für Xi ist der Wiederaufstieg der chinesischen Nation unaufhaltbar, das „Momentum der Geschichte“. Daran könnten weder der internationale „kleine Zirkel“ (gemeint sind die G7-Staaten) noch ein „neuer kalten Krieg“, Sanktionen, Entglobalisierung, Abkoppelung oder Unterbrechung der Lieferketten etwas ändern. “Der Kreis unserer Freunde erweitert sich ständig, das Gleichgewicht der Geschichte neigt sich China zu.“

Xis Selbstüberschätzung hat fünf Monate später einen Dämpfer erhalten: US-Präsident Joe Biden, die G7-Gruppe und die Nato vereinbarten Mitte Juni, sich „systemischen Herausforderungen der regelbasierten Weltordnung“ durch China entgegenzustellen. Gemeinsam wollen sie auf die „Neue Seidenstraße“, auf im Süd- und Ostchinesischen Meer provozierte Territorialkonflikte, Beijings Vorgehen in Hongkong und gegenüber Taiwan und seine inländischen Menschenrechtsverletzungen antworten.

Parteichef Xi, der sein Land zur Siegerin der Geschichte ausgerufen hatte, steht pünktlich zum Parteijubiläum international im Gegenwind. In Beijing werden sich viele fragen, wie es so weit kommen konnte. Xi muss es geahnt haben. Noch in seiner Januar-Rede hatte er zur Eile gedrängt, die Parteielite gewarnt, die derzeit vorteilhaften Bedingungen nicht zu vertun und sich „auf dem Status Quo“ auszuruhen. „Wir dürfen diese Gelegenheit nicht verpassen.“ (所当乘者势也,不可失者时也).

Was er genau damit meinte, ließ Xi offen, der auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist. Anfang 2019 hatte er öffentlich verlangt, die Frage der Wiedervereinigung mit Taiwan auf Chinas Tagesordnung zu setzten. Sie dürfe nicht mehr von Generation zu Generation hinausgeschoben werden. Seit einem Jahr eskaliert Peking militärische Manöver in der Taiwan-Straße, als ob es eine gewaltsame Lösung zur Zwangsvereinigung vorbereitet.

Innenpolitisch zielt Xi auf den kommenden 20. Parteitag 2022, um dort seine Position als ideologischer Vordenker der Partei auszubauen, die Legitimation für seine absolute Macht über den Ein-Parteien Staat. Schon auf dem 19. Parteitag 2017 hatte er die Parteistatuten ändern und seine Vorstellungen vom Aufstieg Chinas (genannt Xi-Jinping-Denken) als Leitideologie „für die neue sozialistische Ära Chinas“ hineinschreiben lassen. Im März 2018 veranlasste er auch den Volkskongress, die Verfassung entsprechend zu ändern. Eine „Lex Xi“ erlaubt ihm ohne zeitliche Begrenzung regieren zu dürfen. Seine Wiederwahl 2023 - nach zehn Amtsjahren als Staatspräsident - ist ihm damit sicher.

Doch er will mehr. Mit der im Februar erschienenen kompletten Neufassung der „Kurzen Geschichte der Kommunistischen Partei“ (中国共产党简史) hat Xi seinen Anspruch angemeldet, als Steuermann (so wie einst nur Mao) allein den Kurs für den Aufstieg Chinas zur sozialistischen Weltmacht zu bestimmen. Von der neuen Parteigeschichte, die seiner erst zehnjährigen Herrschaft über China ein Viertel ihrer 531 Seiten widmet, lässt er sich preisen: Er hätte „China heute so nah ins Zentrum der Weltbühne gerückt, wie es noch nie war. Die Nation stand noch nie so kurz vor ihrer Wiedergeburt.“

Schon im November 2014 erklärte Xi vor dem Auswärtigen Ausschuss des Zentralkomitees, China müsse „eine eigene und besondere Großmacht-Außenpolitik betreiben.“ Es müsse überall mitreden und mitbestimmen können. Dengs einstige Warnungen, kühlen Kopf zu bewahren und „sein Licht unter den Scheffel zu stellen“ (韬光养晦) sind seit dieser Rede Makulatur. Sogenannte „Wolfskrieger“ geben in der Diplomatie den Ton an.

Die Wahl der Fotos in der illustrierten Parteigeschichte spricht Bände. Die Porträts von fünf Parteiführern stehen am Anfang des Buches in chronologischer Reihenfolge: Staatsgründer Mao Zedong, Deng Xiaoping, Jiang Zemin, Hu Jintao und Xi. Wie oft sie insgesamt abgebildet sind, weist auch auf die jeweilige aktuelle Bedeutung: Zwölf Fotos zeigen Xi, vor Mao (elf) und Deng (sechs). In Xis zur Veröffentlichung der Parteigeschichte gleichzeitig gestarteten Schulungs- und Mobilisierungskampagne, die das Land auf das Parteijubiläum am 1. Juli einstimmen soll, spielen nur noch diese „Großen Drei“ eine Rolle. Der Vorsitzende Mao habe China „aufstehen“ und Reformarchitekt Deng das Land „reich“ werden lassen. Xi kommt der letzte - und wichtigste - Part zu. Er führe die Nation ihrer historischen Bestimmung zu, lasse China „stark“ werden. Das legitimiert seine unbegrenzte Macht.

Die gravierendsten Änderungen der Parteigeschichte betreffen die auf nur noch 20 Seiten verkürzte Neuinterpretation der Kulturrevolution und anderer verheerender maoistischer Kampagnen. Frühere, zehn Jahre nach 1981 erschienene Bände zur Parteigeschichte hatten in eigenen Kapiteln die dutzende Millionen Tote fordernden Willkürkampagnen als durch nichts zu rechtfertigende Entgleisungen verurteilt: „Mao Zedong trägt die hauptsächliche Verantwortung für die überall begangenen und langdauernden linken Fehler in der Kulturrevolution.“

In der Neuausgabe werden Maos Verbrechen nur noch als seine Irrtümer, oder gut gemeinte, aber gescheiterte Experimente entschuldigt, zu denen es auf seiner „Erkundung und Suche“ nach neuen Wegen zur Entwicklung des chinesischen Sozialismus kam.

Hinter Xis Verfälschung der Geschichte steht nicht nur sein Versuch, die „von der Geschichte ausgewählte Partei“ als seine Machtbasis zu rehabilitieren, sondern auch tiefsitzende Ängste, dass Chinas System permanent gefährdet ist, wie das der Sowjetunion unterzugehen. In einer seiner ersten Reden nach Machtantritt verlangte Xi am 15. Januar 2013 einen Schlussstrich unter kritische Vergangenheitsbewältigung, Geschichtsreflektionen oder unterschiedliche Interpretationen der Herrschaft unter Mao (1949 bis 1976) und der 30-jährigen Reform- und Öffnungszeit zu ziehen. Beide Entwicklungsphasen dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden, bauten aufeinander auf und seien aus einem Guss.

Xi hat in dutzenden Reden die Parallelen beschworen und damit seine repressive und ideologisierte autoritäre Herrschaft gerechtfertigt. Auch in einer Rede am 20. Februar 2021 zur Mobilisierung des Studiums der Parteigeschichte mahnte er, ständig auf der Hut zu sein: “Gegenwärtig ist die Entwicklung meines Landes unvorhergesehenen Risiken und Herausforderungen im In- und Ausland ausgesetzt, traditioneller und nicht traditioneller Art, die sowohl auf politischem, wirtschaftlichem, kulturellem und sozialem Gebiet, als auch in der Natur vorhanden sind. ‚Schwarze Schwäne‘ (sich unvorhergesehen ereignende Katastrophen) und ‚Graue Nashörner‘ (langfristige Probleme, deren potenzielle Gefährlichkeit nicht erkannt werden) können uns unerwartet heimsuchen.“

Seit März wird der Personenkult um Xi neu entfacht, verstärkt die Propaganda die patriotische und ideologische Erziehung in Schule und Gesellschaft, zieht die Zensur an. Die Verherrlichung der Partei zu ihrem 100. Geburtstag, die Tabuisierung jeglicher Bewältigung der Vergangenheit stellen Beijings Behauptungen in Frage, es wolle sich zu einer verantwortlichen Weltmacht entwickeln. Im Januar brüstete sich Xi, dass Zeit und Momentum auf Chinas Seiten stehen. Das könnte sich angesichts des internationalen Gegenwinds als voreilige Hoffnung erweisen. 

Quellen:

Time and situation are on our side, Source: "Red Flag Manuscript" 2021/5 Author: Chen Youyong, http://www.qstheory.cn/dukan/hqwg/2021-03/11/c_1127198200.htm 

Speech at the mobilization conference of party history study and education, Source: "Seeking Truth" 2021/07 Author: Xi Jinping, http://www.qstheory.cn/dukan/qs/2021-03/31/c_1127274518.htm

Über den Autor:

Johnny Erling war von 1997 bis 2019 Beijing-Korrespondent der „Welt“ und des österreichischen "Standard“.

Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten sind die des Autors und spiegeln nicht unbedingt die des Mercator Institute for China Studies wider.

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