Chinese fighter jet over Zhejiang, China
MERICS Briefs
MERICS China Essentials
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Taiwan + Stromknappheit + Olympische Winterspiele

TOP THEMA: Beijing erhöht Druck auf Taipeh

Wenige Tage vor dem taiwanischen Nationalfeiertag – einem sensiblen Datum für die ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen beiden Seiten der Taiwanstraße – hat Beijing allein am Montag die Rekordzahl von 56 Kampfflugzeugen in die taiwanesische Luftverteidigungszone (ADIZ) entsandt, so viele wie nie zuvor an einem Tag. Insgesamt sind in nur vier Tagen etwa 150 chinesische Militärflugzeuge in den taiwanesischen Luftraum eingedrungen.

Die Militärflüge folgten auf eine Reihe von Ereignissen, bei denen mehrere westliche Länder ihre Entschlossenheit signalisierten, die Freiheit der Schifffahrt in der Region zu schützen und die Beziehungen zu Taiwan zu stärken.

Am vergangenen Wochenende wurde eine ungewöhnlich große Armada von 17 Kriegsschiffen aus sechs verschiedenen Ländern, darunter die USA und Japan, zum Training in das nahe gelegene Philippinische Meer entsandt. Am Montag schickte Großbritannien erstmals seit 2008 ein Kriegsschiff durch die Taiwanstraße. Im September kündigten zudem Australien, Großbritannien und die USA ihren neuen Sicherheitspakt AUKUS an. Aus Beijings Sicht richtet sich dieser gegen China. Die drei AUKUS-Staaten planen in dieser Woche gemeinsame Militärübungen im Südchinesischen Meer, was Beijing weiter verärgern dürfte.

Die Spannungen dürften weiter zunehmen. Japan, das nun ausdrücklich die Sicherheit Taiwans mit seiner eigenen verknüpft hat, wird am Freitag seine ersten Sicherheitsgespräche mit Taipeh auf Ebene der Regierungsparteien führen. Vom 4. bis 11. Oktober besucht eine Delegation französischer Senatoren die Insel. Taiwan wird im Oktober eine 65-köpfige Delegation in mehrere mittel- und osteuropäische Länder entsenden. Nach den diplomatischen Auseinandersetzungen mit Litauen dürfte Beijing diese Reise als Affront empfinden.

MERICS-Analyse: Trotz ihres beunruhigenden Ausmaßes ist Beijings jüngstes Auftreten in der Taiwanstraße keine radikale Abweichung von seiner bisherigen Politik in der Region. Keines der Kampfflugzeuge drang tatsächlich in den souveränen Luftraum Taiwans ein. Chinas Eindringen in Taiwans Luftverteidigungszone (ADIZ) ist eine Demonstration seiner militärischen Macht und zielt vor allem darauf ab, der internationalen als auch der nationalen Öffentlichkeit seine Entschlossenheit zu zeigen, die Insel wieder in die Grenzen Chinas einzugliedern. Beijing fühlt sich offensichtlich durch die verstärkte Zusammenarbeit und Aktivität des Westens in der Region bedroht. Wie ein Beamter der taiwanischen Regierung kürzlich erklärte: "Sobald Taiwan ein wenig Unterstützung erhält, müssen sie [China] reagieren."

Mehr zum Thema: Weitere MERICS-Analysen zu Taiwan, dem indopazifischen Raum und der China-Politik der EU finden Sie hier.

Medienberichte und Quellen:

METRIX

1,89 milliarden CNY

Der staatlich in Auftrag gegebene Film "Die Schlacht am Changjin-See" hat nach seinem Kinostart am 30. Oktober einen neuen 5-Tages-Verkaufsrekord an den Kinokassen von rund 1,89 Milliarden CNY erzielt. Der Film, der mit starken nationalistischen Untertönen den Kampf chinesischer Soldaten gegen die USA während des Koreakriegs thematisiert, brach den Kassenrekord aus dem Jahr 2019. In der Hauptrolle ist Wu Jing zu sehen, der vor allem durch seine Rolle in der "Wolfskrieger"-Reihe bekannt ist. "Die Schlacht am Changjin-See" dürfte der erfolgreichste Film in China in diesem Jahr werden. (Quelle: Maoyan)

Stromknappheit führt zu Abschaltungen von Industrieanlagen

Die Fakten: In den vergangenen Wochen hat es in chinesischen Industriezentren mehrfach Stromengpässe gegeben. Die Rationierung von Strom veranlasste lokale Regierungen, die Produktion in ihrem Zuständigkeitsbereich herunterzufahren und wieder in Gang zu setzen. Regierungen auf verschiedenen Ebenen rangen darum, bei der Energienutzung in Privathaushalten, Industrie und Gewerbe Prioritäten vorzugeben. Gleichzeitig deuten nationale Anordnungen, Kohlevorräte für den Winter aufzubauen, darauf hin, dass dieses Problem nicht so schnell gelöst werden wird.

Der Blick nach vorn: Die Engpässe sind auf mehrere Faktoren zurückzuführen: Erstens ist die Energienachfrage in China aufgrund der durch die Pandemie gestiegenen weltweiten Nachfrage hoch. Zweitens ist das geringe Kohleangebot auf die Beschränkung der Einfuhren aus Australien und den langsamen Anstieg der Lieferungen aus anderen Märkten zurückzuführen. Drittens folgen die Kohlepreise in China den Marktkräften, während die Regulierungsbehörden die Strompreise kontrollieren. Erzeuger müssen also teure Kohle erwerben und zugleich günstigen Strom produzieren. Dieses verlustreiche Unterfangen führt dazu, dass Erzeuger die Produktion beschränken. Viertens zwingen die Bemühungen für die Dekarbonisierung der Wirtschaft auf der einen und Wachstumsziele auf der anderen Seite die politischen Entscheidungsträger zu einer schwierigen Gratwanderung.

MERICS-Analyse: "Es ist unwahrscheinlich, dass die Ursachen der Energieknappheit schnell beseitigt werden. Europäische Unternehmen in China oder mit Lieferketten in diesem Markt müssen mit weiteren Störungen rechnen", sagt MERICS-Experte Jacob Gunter. "Dennoch sind die Behauptungen, dass dies zu einem deutlichen Rückgang der ausländischen Direktinvestitionen oder sogar zum Abzug von Investitionen führen wird, haltlos. Ausländische Unternehmen sind in China mit den gleichen Engpässen konfrontiert wie ihre einheimischen Konkurrenten, so dass sie dadurch nicht benachteiligt werden. Auch nach der Erdgasknappheit im Winter 2017/18 blieben die ausländischen Investitionen in China auf hohem Niveau."

Medienberichte und Quellen:

Geiseldiplomatie: Kein Erfolg für Beijing und Huawei - aber Warnung an die Welt

Die Fakten: China hat die kanadischen Staatsbürger Michael Kovrig und Michael Spavor nach mehr als tausend Tagen in Haft freigelassen. Ihre Inhaftierung im Dezember 2018 wegen Spionagevorwürfen wurde weithin als politische Vergeltung für die Festnahme der Finanzchefin von Huawei, Meng Wanzhou, in Kanada angesehen. Meng war der Umgehung von US-Sanktionen gegen den Iran beschuldigt worden. Kovrig und Spavor wurden am 24. September freigelassen, wenige Stunden nachdem Meng mit den US-Justizbehörden eine Vereinbarung über den Aufschub der Strafverfolgung getroffen hatte, die sie aus dem Hausarrest entließ. Der zeitliche Ablauf der Ereignisse legt die Vermutung nahe, dass die chinesische Regierung sich hier des Instruments der Geiseldiplomatie bediente, auch wenn sie dies bestreitet.

Der Blick nach vorn: Die Fälle von Kovrig und Spavor haben gezeigt, dass Beijing bereit ist, ausländische Staatsangehörige als Druckmittel in rechtlichen und geopolitischen Streitigkeiten mit anderen Ländern einzusetzen. Das ist eine beunruhigende Botschaft für ausländische Unternehmen und Individuen und stellt auch die Rechtssysteme von Demokratien auf die Probe. Regierungen auf der ganzen Welt stehen vor der Frage, wie sie in Zukunft mit ähnlichen Fällen umgehen wollen, sollte China erneut auf Geiseldiplomatie zurückgreifen.

MERICS-Analyse: Während einige Beobachter den Fall als Erfolg für China bezeichnet haben, hat Beijing sich – und dem Telekomriesen Huawei – durch sein Verhalten auch Schaden zugefügt:

  1. Meng plädierte auf nicht schuldig, gab aber zu, Geschäfte des Unternehmens mit dem Iran verheimlicht zu haben, was den Kern der Anklage der Staatsanwaltschaft gegen sie bildete. Dieses Eingeständnis und die Politisierung von Mengs Festnahme deuten darauf hin, wie eng die Verbindungen von Huawei zur KPC sein müssen und dass es Risiken für die nationale Sicherheit von Ländern gibt, die Huawei-Ausrüstung in ihre Netze einbauen lassen.
  2. Weder Ottawa noch Washington haben dem Druck Beijings nachgegeben. Stattdessen hielten sie an einem ordnungsgemäßen Verfahren fest. Kritiker hatten wiederholt Zweifel geäußert, wie solide die Gründe für das Strafverfahren gegen Meng waren.
  3. Mengs Freilassung mag den Nationalismus in China beflügelt haben, aber die internationale Aufmerksamkeit, die der Fall der „zwei Michaels“ erhielt, könnte Chinas Ruf in der Welt geschadet haben. Es ist fraglich, ob die Gefährdung der Beziehungen zu Handelspartnern und die Abschreckung von Ausländern eine erfolgreiche Strategie für eine Weltmacht ist.

Medienberichte und Quellen:

"Einfache" olympische Winterspiele, vollständige Öffnung Chinas bleibt wegen Corona ungewiss

Die Fakten: China hat für die bevorstehenden Olympischen Winterspiele in Beijing ein erstes Paket an strengen Maßnahmen angekündigt. Alle Athleten sollen täglich getestet werden, wer nicht geimpft ist, muss drei Wochen lang in Quarantäne bleiben, und nur einheimische Zuschauer sind zugelassen. Ein Sprecher des Außenministeriums erklärte, die Olympischen Spiele würden auf "brillante", "sichere", aber "einfache" Weise abgehalten. Der Ausbruch der Deltavariante in China ist weitgehend unter Kontrolle, dennoch macht die chinesische Führung keine Schritte für eine internationale Öffnung.

Der Blick nach vorn: In einem kürzlich erschienenen Interview erklärte der führende chinesische Virologe Zhong Nanshan, dass China eine Impfungsrate von 80 bis 85 Prozent benötigt, bevor es sich wieder öffnen kann. Dieses Ziel könnte das Land bis Ende 2021 erreichen. Aktuell haben bereits 78 Prozent der Bevölkerung ihre erste Impfung erhalten. Laut Zhong sind eine weitere wichtige Vorbedingung niedrige Infektionsraten in anderen Ländern. Derzeit werden Milliarden CNY für zentrale Quarantäneeinrichtungen ausgegeben, was darauf hindeutet, dass Quarantänen auf absehbare Zeit die Norm bleiben werden. Für die Olympischen Spiele sollen in den kommenden Wochen detailliertere Maßnahmen zur Covid-19-Prävention angekündigt werden.   

MERICS-Analyse: EU-Bürger sollten nicht vor Mitte oder Ende 2022 auf einen signifikanten Abbau der Reisebeschränkungen hoffen. Die mögliche Wiederöffnung Chinas wird ein schrittweiser Prozess sein und mit Ländern beginnen, die eine ähnliche Null-Covid-Strategie verfolgen. Mit Blick auf den bevorstehenden 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas 2022 und aufgrund der Ungewissheit über die Wirksamkeit der chinesischen Impfstoffe gegen die Delta-Variante wird die chinesische Führung – obwohl sie das Coronavirus im Land aktuell unter Kontrolle hat – weiter vorsichtig agieren.

Medienberichte und Quellen:

REZENSION: Red Roulette: An Insider's Story of Wealth, Power, Corruption, and Vengeance in Today's China, von Desmond Shum (Scribner, 2021)

Desmond Shums Memoiren, die als "das Buch, von dem Beijing nicht will, dass man es liest" bezeichnet werden, gewähren dem Leser einen Blick auf die Schattenseiten von Chinas wirtschaftlichem Aufstieg und legen dar, wie Geld und Macht während der goldenen 2000er Jahre ihre – uralte – Allianz eingingen. Shum erzählt die düstere, aber faszinierende Geschichte, wie er selbst und seine Ex-Frau Whitney Duan, beide aus bescheidenen Verhältnissen stammend, durch politische Verbindungen und Geschäftsmöglichkeiten immensen Reichtum erlangten. Dabei gingen beide ein hohes Risiko ein und zahlten einen hohen Preis. 2017 wurde Duan von Sicherheitskräften festgenommen, Shum lebt inzwischen im Exil.

Die Brisanz des Buches ergibt sich nicht aus der Darstellung der damals weit verbreiteten, aber allgemein bekannten Korruption in China, sondern aus den intimen Details über die Menschen, mit denen das Paar zu tun hatte. Viele von ihnen waren in hohen Positionen, darunter auch die Frau des früheren Ministerpräsidenten Wen Jiabao.

Shum führt den Leser durch die Zeit des rasanten Wachstums, in der sich Beamte und Unternehmer zusammentaten, um so schnell wie möglich so viel Geld wie möglich zu verdienen. Genehmigungen und Lizenzen, billige Aktienoptionen staatlicher Unternehmen, die kurz vor deren Börsengang an Insider ausgegeben wurden, und ein privilegierter Zugang zu neuen Märkten, der denen mit guten Beziehungen vorbehalten war, prägten diese Zeit und begünstigten die Entstehung der heutigen superreichen Eliten.

Viele der von Shum erwähnten Akteure sitzen inzwischen im Gefängnis oder sind in den Ruhestand getreten. Sich selbst versucht Shum in ein günstiges Licht zu rücken. Er präsentiert sich als jemand, der einfach nur Geschäfte machte wie auch andere seinerzeit. In Anbetracht dessen, dass seine Ex-Frau als politische Geisel von der Bildfläche verschwand, wirkt Shums Bericht auch ein bisschen wie eine persönliche Rache an Chinas Elite. Dennoch ist "Rotes Roulette" ein fesselnder persönlicher Bericht und eine unverzichtbare Lektüre für alle, die sich für die Mechanismen hinter der Anhäufung von Reichtum der chinesischen Geld-Elite interessieren.

Rezension von Nis Grünberg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, MERICS

IM PROFIL: Eric Chu: Neuer Vorsitzender der taiwanischen Opposition will Beziehungen mit Beijing stärken

Fast unmittelbar, nachdem Eric Chu die Wahl zum Vorsitzenden der Kuomintang (KMT), Taiwans größter Oppositionspartei gewonnen hatte, versprach er, die Gespräche auf hoher Ebene wieder aufzunehmen und die Beziehungen zu Beijing wiederherzustellen. Der 60-jährige erfahrene Politiker und Präsidentschaftskandidat der KMT im Jahr 2016 übernimmt das Ruder, während Beijing dieser Tage den Druck auf Taiwan weiter erhöht. In den vergangenen Tagen hat China eine Rekordzahl von 56 Kampfjets und Militärflugzeugen über die Insel geflogen, die es als Teil seines Territoriums beansprucht.

In seiner zweiten Amtszeit als KMT-Vorsitzender hat der in den USA ausgebildete Chu eine schwierige Aufgabe vor sich. Der ehemalige Bürgermeister der größten Stadt Taiwans, Neu-Taipeh, muss nicht nur die Fraktionen innerhalb der Partei wieder zusammenführen. Er muss vor allem Wege finden, um die KMT bei den anstehenden lokalen und nationalen Wahlen im nächsten Jahr wieder an die Macht zu bringen. Die Partei musste zwei Wahlniederlagen in Folge hinnehmen und verlor sowohl die Mehrheit im taiwanischen Parlament als auch das Präsidentenamt.  

Chu, der von den Parteimitgliedern 46 Prozent der Stimmen erhielt, gilt als beliebter Politiker, aber die Zustimmungswerte für die KMT fallen weiter und liegen hinter denen der regierenden Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) zurück. Vor allem bei den jüngeren Taiwanern, die ihre Identität ausschließlich als von den Festlandchinesen getrennt betrachten.  

Jüngere KMT-Anhänger wünschen sich von Chu ein Abweichen von dem Kurs, im Verhältnis mit China auf Harmonie zu setzen. Doch in seiner Antwort auf ein Glückwunschschreiben Xi Jinpings machte der ehemalige Assistenzprofessor an der City University of New York schon einmal klar, er sei "gegen die Unabhängigkeit Taiwans". Xi hatte die derzeitigen Beziehungen mit Taipeh als "düster" bezeichnet und seine Hoffnung auf eine Zusammenarbeit mit der KMT im Hinblick auf die nationale Wiedervereinigung ausgedrückt. Chus Festhalten am in Taiwan umstrittenen "Konsens von 1992", der die Beziehungen zur Volksrepublik absteckt, wurde von Beijing positiv aufgenommen.

Medienberichte und Quellen: