Bundeskanzler in China 2024
MERICS Briefs
MERICS China Essentials
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Die China-Reise des Bundeskanzlers + China-Iran + Überkapazitäten

Top Thema

China betont bei Scholz-Besuch Zusammenarbeit ohne Reibungen

Die chinesische Regierung und parteistaatliche Medien haben beim Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in China in dieser Woche gezielt die positiven Aspekte der Beziehungen hervorgehoben. Auf von der deutschen Seite vorgebrachte kritische Themen gingen sie nicht direkt ein. Deutsche und europäische Bedenken bei Themen wie Marktzugang, mögliches Preisdumping aufgrund von Überproduktion und Chinas Rolle in internationalen Konflikten wie dem Krieg in der Ukraine wurden beiseitegeschoben. Die öffentliche Berichterstattung konzentrierte sich stattdessen auf die Zusammenarbeit und strategische Beziehungen.

Bei seinem dreitägigen Besuch in Chongqing, Shanghai und Beijing wurde Scholz von einer 12-köpfigen Delegation von Unternehmensvertretern und den Ministern für Umwelt, Landwirtschaft sowie Digitales und Verkehr begleitet. Er traf mit Präsident Xi Jinping und Premierminister Li Qiang zusammen.

Xi rief Deutschland dazu auf, sich auf die Win-Win-Kooperation zu konzentrieren, Differenzen beiseitezuschieben und die Beziehungen zwischen der EU und China auf Kurs zu halten. Xis zentrale Botschaft lautete, dass die Abhängigkeit Deutschlands von China kein Risiko darstelle, sondern ein Zeichen für starke bilaterale Beziehungen sei. Während Scholz eine Öffnung für die Einfuhr deutscher Lebensmittelprodukte erreichte, stellte die chinesische Regierung in ihrer Erklärung zu dem Treffen einen direkten Zusammenhang zwischen den deutschen Forderungen nach Marktzugang und der Behandlung chinesischer Unternehmen im Ausland her.

Das von Scholz gewählte Thema eines bilateralen „Transformationsdialogs" mit den Schwerpunkten Nachhaltigkeit, grüne Technologien und Innovation sowie sein Bekenntnis zur weiteren Zusammenarbeit wurden in Beijing positiv aufgenommen. Die parteistaatlichen Medien stellten die zehnjährige strategische Partnerschaft zwischen China und Deutschland in den Vordergrund und bezeichneten die engen Handelsbeziehungen als Stabilitätsanker in der angespannten geopolitischen Lage. Videos in den chinesischen Medien, in denen Xi und Scholz durch Gärten mit Blumen und Fischteichen spazieren, sollten ein harmonisches Bild vermitteln.

Auffallend war, dass sowohl in den chinesischen als auch in den deutschen offiziellen Erklärungen zu dem Besuch das Thema Menschenrechte nicht erwähnt wurde, obwohl es für ethische Standards in der Lieferkette immer wichtiger wird. Laufende Debatten in Deutschland und der EU über die Forschungszusammenarbeit mit China, neue Spionagevorwürfe, Beijings Versuche, die öffentliche Meinung im Ausland zu beeinflussen und ein potenzieller Konflikt um Taiwan fehlten ebenfalls auf der offiziellen Agenda.

MERICS-Analyse: „Obwohl Scholz einige Punkte ansprach, die für Deutschland und die EU von Bedeutung sind, ist es China gelungen, die Agenda zu prägen und die Diskussion auf Themen zu beschränken, die es in seinem Sinne steuern kann", sagt Katja Drinhausen, Leiterin des MERICS-Programms Politik und Gesellschaft. „Doch das strategische Schweigen beider Seiten ignoriert Probleme – von Menschenrechten bis Cybersicherheit –, die früher oder später wieder auftauchen werden und die bilateralen Beziehungen auch in Zukunft belasten dürften."

Themen

Schweigen zu Iran bei Xi-Scholz-Treffen könnte Chinas geringen Einfluss widerspiegeln

Die Fakten: Die Hoffnung, Bundeskanzler Olaf Scholz könnte Präsident Xi Jinping überzeugen, Chinas gute Beziehungen zum Iran und zu Russland zu nutzen, um die eskalierenden Konflikte im Nahen Osten und in Mitteleuropa einzudämmen, hat sich während der Kanzlerreise nach China nicht erfüllt. Selbst nach dem iranischen Angriff auf Israel am Wochenende wurde eine mögliche Rolle Chinas bei der Schlichtung der geopolitischen Spannungen im Nahen Osten von keiner der beiden Seiten öffentlich erwähnt. Das spiegelt die chinesisch-europäische Uneinigkeit in wichtigen geopolitischen Fragen wider, aber möglicherweise auch Chinas mangelnden Einfluss auf seine Partner.

Der Blick nach vorn: Neben den vertieften bilateralen Beziehungen pflegen Beijing und Teheran eine zunehmend enge trilaterale Partnerschaft mit Moskau. In den letzten Jahren haben die drei ihre Zusammenarbeit sowohl durch trilaterale militärische Zusammenarbeit als auch durch die Aufnahme des Irans in die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit und in die BRICS vertieft. Dennoch sollten die europäischen Regierungen nicht davon ablassen, auf gemeinsame Lösungen für eskalierende Konflikte zu drängen, zumal China sich als glaubwürdiger internationaler Friedensstifter und verantwortungsvolle Weltmacht etablieren will.

MERICS Analyse: „Trotz der wachsenden Zusammenarbeit zwischen China, Russland und dem Iran kann von einer ‚trilateralen Allianz‘ noch keine Rede sein“, sagt Eva Seiwert, Analystin bei MERICS. „Es ist fraglich, wieviel Einfluss China wirklich auf diese Länder hat. Doch auch wenn hier große Durchbrüche in naher Zukunft unwahrscheinlich sind: Europäische Politiker müssen gegenüber Beijing weiter darauf pochen, dem aggressiven Verhalten seiner Partner entgegenzuwirken. Das kann nur dann gelingen, wenn Europa geeint auftritt.“

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Medienberichte und Quellen:

Beijing weist Bedenken der USA und EU zu Überkapazitäten zurück

Die Fakten: China widerspricht der in den USA und Europa laut werdenden Kritik an Produktionsüberschüssen in China, die Preisdumping und unfairen Wettbewerb zur Folge haben. Ranghohe Vertreter beider Regionen hatten das Thema bei Besuchen in China angesprochen. Bei ihrem jüngsten Besuch in China hob US-Finanzministerin Janet Yellen grüne Technologien, darunter E-Autos, Batterien und Solarpaneele als betroffene Bereiche hervor. Kanzler Olaf Scholz äußerte bei seinem Besuch ähnliche Bedenken. Offizielle Vertreter und parteistaatliche Medien in China kritisierten die Warnungen als eine weitere Variation der „Theorie von China als Bedrohung”. Doch obwohl Beijing die Problematik rhetorisch zurückweist, schwört es derzeit seine Beamtenschaft darauf ein, aus Überkapazitäten entstehende Risiken im Auge zu behalten.

Der Blick nach vorn: Der Arbeitsbericht der chinesischen Regierung hatte die auch aufgrund von Chinas schwacher wirtschaftlicher Erholung wachsenden Risiken von Überkapazitäten als Priorität genannt, der sich die Beamtenschaft widmen müsse. Produktionsüberschüsse sind eine Begleiterscheinung von Chinas Industriepolitik, weil Maßnahmen oft massive Investitionen in ausgewählte Sektoren lenken. Im Idealfall werden neue Technologiebereiche zunächst von vielen Marktteilnehmern geflutet, von denen am Ende oft nur wenige führende Unternehmen übrigbleiben, die auch ohne Unterstützung konkurrenzfähige Qualität produzieren. Chinas wirtschaftlicher Abschwung und andere Faktoren bremsen jedoch diese Konsolidierung. Beijings Durchgreifen auf dem Immobiliensektor oder gegen Internetunternehmen aus dem Konsumbereich führte dazu, dass Kapital aus diesen Bereichen vor allem in die Fertigungsindustrie floss.

MERICS-Analyse: „Überkapazitäten sind Bestandteil von Chinas Wirtschaftsmodell. Daher überrascht es nicht, dass Beijing von einer natürlichen Entwicklung spricht, bedingt durch plötzliche Änderungen bei Angebot und Nachfrage, wenn neue Industrien in China entstehen“, sagt Jacob Gunter, Lead Analyst bei MERICS. „Da die USA und die EU in der Vergangenheit kaum Druck auf China ausübten, weil Überkapazitäten heimischen Verbrauchern und Herstellern billige Waren bescherten, sind die chinesischen Behörden durchaus auch überrascht, dass diese plötzlich kritisch angesprochen werden.“

Medienberichte und Quellen:

Xiaomi steigt ins E-Auto-Rennen ein – und schafft damit, was US-amerikanische Firmen nicht geschafft haben

Die Fakten: Der Smartphone-Hersteller Xiaomi hat mit der aufsehenerregenden Vorstellung seines ersten Elektrofahrzeugs einen Branchenwechsel vollzogen, vor dem selbst US-Tech-Unternehmen bisher zurückscheuten. Die Luxusversion des neuen „SU7“ wartet mit Funktionen auf, die mit denen westlicher Konkurrenten wie Tesla oder Mercedes-Benz mithalten oder diese sogar übertreffen – und das zu weniger als der Hälfte des Preises. Chinesische Technologieunternehmen drängen in traditionelle Branchen wie die Autoindustrie, da die Regierung verlangt, die eigene technische Wettbewerbsfähigkeit – und die Exporte – bei Gütern mit höherer Wertschöpfung zu steigern. In diesem Prozess könnten die Technologieunternehmen traditionelle Industrien revolutionieren.

Der Blick nach vorn: Xiaomis Einstieg in die Elektromobilität ist auch deshalb bemerkenswert, weil der US-Konzern Apple erst kürzlich seine Ambitionen in diesem Sektor aufgegeben hatte. Das chinesische Unternehmen kombiniert seine Fahr- und Betriebssystemsoftware mit der Batterietechnologie von CATL und der Produktions-Expertise der Beijing Automobile Works Group. Die Flexibilität, mit der fortschrittliche Software mit Komponenten von E-Autos kombiniert wird, steht im Gegensatz zum Ansatz der europäischen Automobilhersteller, die stärker auf Maschinenbau in Eigenentwicklung setzen. Huawei, Baidu und andere chinesische Technologieunternehmen arbeiten ebenfalls mit Automobilherstellern zusammen mit dem Ziel, wie Xiaomi die Grenzen zwischen den Sektoren zu verwischen.

MERICS Analyse: „Chinesische Technologieunternehmen folgen dem Wunsch der Regierung, sich auf die Realwirtschaft zu konzentrieren, und krempeln auf diesem Weg die traditionellen Industrien um. Xiaomi will Autos in Smartphones auf Rädern verwandeln – eine Mischung aus Neuem und Altem, die bald auch andere traditionelle Industrien wie Energieversorgungsnetze umkrempeln könnte“, sagt MERICS-Analystin Wendy Chang. „E-Autos, die von Technologieunternehmen hergestellt werden, bedeuten noch mehr Wettbewerb, sowohl für westliche als auch chinesische Hersteller. Vor allem etablierte europäische Autobauer könnten es schwer haben zu konkurrieren.“

Medienberichte und Quellen:

METRIX

1:33:44 Stunden

Mit dieser Zeit gewann der chinesische Langstreckenläufer He Jie kürzlich den Halbmarathon in Beijing. Dabei hätte der Sieger eventuell noch schneller ins Ziel und aus Kenia oder Äthiopien kommen können, hätten die drei Läufer, die mit He um den ersten Platz konkurrierten, ihm nicht augenscheinlich den Vortritt überlassen. Der Vorfall soll nun überprüft werden. Hes Konkurrenten teilten sich mit einer Zeit von 1:33:45 Stunden den zweiten Platz. (Quelle: NYT)

Rezension

The Gilded Cage: Technology, Development, and State Capitalism in China von Ya-Wen Lei (Princeton University Press, 2023)

Ya-Wen Lei zeigt in seinem Buch “The Gilded Cage”, wie sich Chinas Streben nach technologischem Fortschritt auf Fabrikarbeiter, Unternehmer und Softwareingenieure auswirkt. Die Harvard-Professorin verwendet die Metapher eines Vogelkäfigs, um zu veranschaulichen, wie der Staat die Hightech-Unternehmen – in diesem Bild die Vögel – unterstützt und dabei eine Reihe von sehr gezielten Regulierungen, Anreizen und anderen politischen Maßnahmen einsetzt, die die Autorin mit einem Käfig vergleicht.

Darin gefangen befinden sich auch die von den Algorithmen der im digitalen Kapitalismus ausgebeuteten Arbeiter, etwa Kuriere oder Fahrer. „Chinas Technologieriesen beteiligen sich an der Errichtung eines wachsenden Apparats an Instrumenten im Dienste der chinesischen Entwicklungsstrategie“, so Leis Fazit.

Die meisten Menschen, die Ya-Wen Lei von 2017 bis 2021 befragte, nehmen die Opfer für Chinas Fortschritt in Kauf. Nur eine Handvoll Arbeiter äußerte sich kritisch über Ausbeutung, wenige Software-Ingenieure kehrten der Branche den Rücken und so gut wie keine von den Fabrikbesitzern, die Roboter in ihren Unternehmen an sich unpraktisch finden, haben ein Problem mit Programmen, die Arbeiter durch Maschinen ersetzen. „Gilded Cage“ ist eine unverzichtbare Lektüre für alle, die verstehen wollen, wie Chinas Arbeiter und Eliten auf den sich verschärfenden globalen Wettbewerb reagieren (auch wenn der Autor die Auswirkungen auf ausländische Arbeiter, Unternehmen und Regierungen noch deutlicher hätte herausarbeiten können).

Lei beschreibt sehr anschaulich, wie Beijing in den späten 2010er Jahren seinen Glauben an den technologischen Fortschritt in Politik umsetzte – und die scheinbaren oder tatsächlichen Widersprüche, die sich dahinter verbergen. Die Autorin sieht das harte Durchgreifen der Regierung in der Technologiebranche 2020 und 2021 als einen Versuch, nicht mehr mit ihrer Strategie übereinstimmende Unternehmen loszuwerden, um Platz im "Käfig" zu schaffen: „Die neuen Vögel sind Firmen, die die Integration von digitaler und realer Wirtschaft fördern und die digitale Aufwertung und Transformation traditioneller Industrien erleichtern können.“ Lei zeigt in ihrem Buch auch, wie der Staat sowohl seine Prioritäten verlagert als auch unbequemen Fragen zu seinem instrumentalistischen Ansatz aus dem Weg geht.

Rezension von Jeroen Groenewegen-Lau

MERICS China Digest

Chinesische Wissenschaftler bauen günstigen KI-Computerchip für Antrieb einer Hyperschallwaffe um (SCMP)

Ein Forscherteam in China hat einen kostengünstigen KI-Chip zur Verstärkung von Hyperschallwaffen verwendet. Die Forscher bauten ein Nvidia Jetson TX2i GPU-Computermodul, das im Internet gekauft werden kann, in ein Hyperschallflugzeug ein, das Geschwindigkeiten von mehr als Mach 7 erreichen kann. (16.04.2024)

Chinas Halbleiterproduktion wächst im ersten Quartal um 40 Prozent (SCMP)

Chinas Gesamtproduktion integrierter Schaltkreise stieg im ersten Quartal auf 98,1 Milliarden Stück. China weitet die Produktion von Chips der älteren Generation aus, während es durch US-Handelsbeschränkungen für moderne Chip-Herstellungsanlagen eingeschränkt wird. Das könnte eine Überproduktion und möglicherweise eine chinesische Dominanz bei der weltweiten Produktion von Legacy-Chips zur Folge haben. (16.04.2024)

Beijing verstärkt zum Ramadan Eingriff auf religiöse Praxis in Xinjiang (The Economist)

Beijing hat in diesem Jahr die religiösen Vorschriften für die westlich gelegene Region Xinjiang, in der Uiguren und andere muslimische Minderheiten leben, überarbeitet. Die Vorschriften betonen das Recht, an keine Religion zu glauben. Darüber hinaus sehen sie neue Kontrollen des Religionsunterrichts und anderer Bereiche vor. (11.04.2024)

China verfolgt weiterhin Familien von Dissidenten (The Guardian)

Ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Chinese Human Rights Defenders (CHRD) argumentiert, dass China die kollektive Bestrafung fortsetzt, obwohl es zugesagt hatte, dieses Vorgehen zu beenden. Als Beispiele nennt die Gruppe Einschüchterungen und Schikanen, Zwangsräumungen, Reiseverbote und Strafverfahren gegen Familienmitglieder in China und in der Diaspora. (15.04.2024)