Pressemitteilung
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Unruhige Zeiten in Hongkong

“Die oberste Priorität der KPC ist die Sicherung des eigenen Herrschaftsanspruchs um fast jeden Preis“

Vor 22 Jahren, am 1. Juli 1997, wurde die ehemalige Kronkolonie Hongkong an die Volksrepublik China zurückgegeben. Seitdem wird Hongkong nach dem Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ regiert. In den vergangenen Wochen gingen so viele Menschen in Hongkong auf die Straße wie zuletzt anlässlich der Rückgabe an China. Bis zu zwei Millionen Menschen protestierten gegen die geplante Änderung des Auslieferungsgesetzes. Die Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam beugte sich Mitte Juni dem Druck und stellte den Gesetzentwurf vorerst zurück. Wenig später entschuldigte sie sich für den Einsatz von Gewalt gegen Demonstranten. Einen Rücktritt schließt sie bislang allerdings aus. 

Fragen an Dr. Kristin Shi-Kupfer, Leiterin des Forschungsbereichs Politik, Gesellschaft und Medien am MERICS

Erwarten Sie anlässlich des Jahrestages am 1. Juli weitere Großdemonstrationen?  

Die Hongkonger Bevölkerung wird den Jahrestag der Rückgabe an die Volksrepublik zum Anlass nehmen, um erneut ein klares Signal der Unzufriedenheit und des Widerstandswillens an Beijing zu senden. Das einzige, was sie aus meiner Sicht möglicherweise davon abhalten könnte, wäre die Verhängung des Ausnahmezustands durch die Hongkonger Regierung, sollte die Lage eskalieren. 

Was müsste aus Ihrer Sicht passieren, damit es nicht zu weiteren Protesten kommt?  

Die Hongkonger Regierung – also eigentlich die Führung der Volksrepublik, die die Fäden in der Hand hält – müsste substantiell auf die Forderungen der Protestierenden eingehen, zum Beispiel das Gesetzesvorhaben komplett aufgeben, die Bezeichnung der letzten Proteste als Krawalle zurücknehmen und verhaftete Protestteilnehmer frei lassen. Das andere Szenario ist, dass die Autoritäten ähnlich wie 2014 – versuchen, Anführer zu identifizieren, die Bewegung zu infiltrieren, Gewalt zu provozieren, um dann ein Vorgehen mit harter Hand zu rechtfertigen. Dass Beijing derzeit versucht, die Proteste als „ausländische Verschwörung“ einzuordnen, ist gefährlich und bezeichnend: Die chinesische Führung will die Proteste gegenüber der eigenen Bevölkerung und dem Ausland diskreditieren, um Gründe zu haben, härter vorzugehen.   

Die Kommunistische Führung in China will es vermeiden, zu sehr auf die Forderungen der Protestierenden einzugehen.  Deshalb ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie einem Rücktritt der Regierungschefin Carrie Lam zustimmt. Lam selbst ist in einer sehr schwierigen Lage. Sie kann kaum etwas zu tun, um ihre Wahrnehmung als Marionette Beijings zu verändern. Möglicherweise würde eine gezielte Politik für sozialen Wohnungsbau und eine Verbesserung der sozialen Sicherungssysteme einigen Demonstrierenden die Frustration über soziale Ungleichheit nehmen. Allerdings müsste Lam dann die Interessen der großen Investoren und Reichen antasten, die wiederum eng mit der Volksrepublik verbandelt sind.   

Was bedeuten die Proteste für die chinesische Regierung um Partei- und Staatschef Xi Jinping? 

Die Proteste sind eine Blamage: weder die Hongkonger noch die Beijinger Regierung hatten offensichtlich mit solch massiven Demonstrationen gerechnet. Gleichzeitig bedeuten sie eine Herausforderung für den Herrschaftsanspruch der Kommunistischen Partei (KPC). Die Idee hinter der Formel „Ein Land, zwei Systeme“ war immer, dass sich die Systeme angleichen – auch wenn damals 1984 bei der Vertragsunterzeichnung eine liberalere Volksrepublik denkbar schien.  Seitdem der jetzige Partei- und Staatschef Xi Jinping an der Macht ist, hat die KPC ihren Einfluss auf Hongkongs Politik, Medien und Wissenschaft beständig ausgeweitet. Für Xi Jinping bedeutet Hongkong in Zeiten des Konflikts mit den USA eine zweite Front. Er steht nicht nur international, aber vor allem auch innerhalb der politischen Eliten unter Druck, eine gute (und baldige) Lösung zu liefern. Xi hat sich durch die Anti-Korruptionskampagne, aber auch durch seine zunehmende Machtzentralisierung Feinde gemacht. Diese warten nur darauf, dass er einen Fehler macht.  

Wie wichtig ist Hongkong heute überhaupt noch für China?  

Wirtschaftlich betrachtet ist die Metropole nach wie vor ein wichtiges Finanzzentrum, das u.a. als Drehscheibe für ausländische Geldströme dient, die Möglichkeit der Kapitalaufnahme für eigene Unternehmen an der dortigen Börse bietet und einen wichtigen Offshore-Markt für den Renminbi darstellt. Die politische Bedeutung ist aber mittlerweile gewichtiger: Die Sonderverwaltungszone ist ein Stachel im Fleisch der Volksrepublik: Zähneknirschend muss Beijing kritische Publikationen und Proteste im Namen der Autonomie akzeptieren. Mit Blick auf Taiwan (das langfristig mit der Volksrepublik vereinigt werden soll) und die internationale Gemeinschaft darf die chinesische Führung die politische Einflussnahme nicht zu offensichtlich vorantreiben. Die oberste Priorität ist aber letztlich die Sicherung des eigenen Herrschaftsanspruchs um fast jeden Preis.   

Wie sollten ausländische Regierungen auf die Entwicklungen in Hongkong reagieren? 

Ausländische Regierungen, allen voran Großbritannien, sollten China an das völkerrechtliche bindende Versprechen „Ein Land, zwei Systeme“ erinnern. Der Entwurf für das Auslieferungsgesetz muss als klare Gefährdung der wirtschaftlichen und politischen Autonomie gewertet und entsprechend angesprochen werden.  

Rechnen Sie in den nächsten Jahren mit einer weiteren Erosion der Autonomie Hongkongs?  

Ja, absolut. Nachdem die chinesische Regierung mit Gesetzesvorhaben zur Formalisierung ihres Einflusses gescheitert ist, rechne ich fest damit, dass Beijing seine informelle politische Einflussnahme ausweitet. Denn wenn die chinesische Führung um Xi Jinping im Inland wie auch im Ausland ein klares Signal ihres Herrschaftsanspruchs setzen will, muss sie ihre Einflussnahme auf Hongkong eher noch erhöhen. Beijing will reputationsschädigende Bilder wie eine gewalttätige Niederschlagung einer Protestbewegung möglichst vermeiden. Aber im Zweifelsfall wird die chinesische Führung auch dazu bereit sein.  

(Die Fragen stellte Mario Büscher) 

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