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MERICS Briefs
MERICS China Essentials
11 Minuten Lesedauer

Strauchelnde Wirtschaft + Umgang mit Flut sorgt für Unmut + Ende von Italiens BRI-Abkommen

TOP STORY

Viel Rhetorik und wenig Konkretes zur Belebung von Chinas Wirtschaft

Chinas wirtschaftlicher Aufschwung, auf den nach dem Ende der Corona-Lockdowns viele Hoffnungen ruhten, bleibt weiterhin aus – und die politische Führung bleibt vage in ihren Äußerungen, wie es weitergehen soll. Nach in dieser Woche bekannt gewordenen Daten sind die Exporte im Jahresvergleich um 14 Prozent gesunken, der stärkste Rückgang seit Februar 2020. Die Importe sind mit 12,4 Prozent noch stärker als erwartet zurückgegangen. Diese jüngsten Zahlen reihen sich ein in die mäßigen Wirtschaftsdaten der vergangenen Monate, die Erwartungen von Wirtschaftspolitikern und Anlegern wurden enttäuscht.

Die chinesische Regierung versucht, die Märkte mit Zusicherungen und politischen Maßnahmen zu beruhigen. Im vergangenen Monat veröffentlichten das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei (KPC) und der Staatsrat einen 31-Punkte-Aktionsplan. Der Privatsektor soll „größer, besser und stärker“ werden – eine Formulierung, welche die Führung um Xi Jinping normalerweise auf Staatsunternehmen anwendet. In öffentlichen Beratungen mit Wirtschaftsvertretern wurde zudem nach Wegen gesucht, angeschlagenen Privatunternehmen zu helfen.

Beijing hat ein paar vorsichtige Maßnahmen ergriffen und Pläne zur Ankurbelung des Konsums, zur Verlängerung von Steuererleichterungen und für leichte Senkungen von Zinsen und Mindestreserven von Banken vorgelegt. Diese sind aber noch weit entfernt von großen geld- und steuerpolitischen Hilfspaketen der Vergangenheit. Vorerst soll Rhetorik zur Beruhigung der Stimmung beitragen: Die für makroökonomische Planung zuständige Nationale Entwicklungs- und Reformkommission (NDRC) hat in diesem Jahr ungewöhnlich viele Pressekonferenzen abgehalten, acht im dritten, neun im zweiten und sechs im ersten Quartal.

Auch auf der mit Spannung erwarteten Sitzung des Politbüros am 24. Juli wurde kein größeres Konjunkturpaket angekündigt. Das Gremium räumte einen „mühsamen Erholungsprozess“ nach der Pandemie an, beließ es ansonsten bei Hilfsmaßnahmen zur Wirtschaftsbelebung. Die Arbeitsmarktabteilung des NDRC befasste sich in Symposien mit „Ideen zur Ankurbelung des Konsums“. Es scheint, als sei sich die Führung derzeit selbst nicht sicher, wie sie Anreize setzen soll in Zeiten hoher Verschuldung. Zu finanziellen Hilfen an die Bevölkerung zur Konsumbelebung hat sich Xi mehrfach kritisch geäußert.

Problematisch ist auch, dass die Führung unter Xi den Beamten teils konkurrierende Ziele setzt und keine klaren Prioritäten vorgibt. Die Bürokratie muss zwischen widersprüchlichen Anforderungen jonglieren: Sie soll Anreize schaffen und gleichzeitig Schulden abbauen, Produktivität steigern und die Beschäftigung stabil halten sowie Investitionen des Privatsektors zu erleichtern und zugleich die „ungeordnete Expansion des Kapitals“ vermeiden.

MERICS-Analyse: „Die unklaren Signale von Chinas Wirtschaftsplanern deuten auf fehlende Klarheit darüber, was jetzt die Prioritäten sein sollten,“ sagt MERICS-Experte Jacob Gunter. „Solange von Xi selbst keine klaren Anordnungen kommen, wird es bei rhetorischen Ankündigungen und einer Politik der kleinen Schritte bleiben. Das sind die typischen Behelfsmittel der Beamten, wenn klare Anweisungen und Freiraum für Experimente fehlen und nur Ideologie zu interpretieren ist.“

Medienberichte und Quellen:

METRIX

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Dies ist die Zahl der „Sozialistischen Grundwerte“, die ein chinesischer Kunststudent auf eine Mauer im Londoner East End sprühte. Der Graffitikünstler verneinte jegliche politische Motive und betonte, ausschließlich „inspirierende“ Absichten verfolgt zu haben. Er löste dennoch kontroverse Reaktionen aus. Nationalistische chinesische Kommentatoren betrachteten sein Werk als patriotischen Akt, andere kritisierten, dass vorherige Straßenkunst mit den Schriftzeichen übermalt wurde. Besucher schrieben Kritik an Xi Jinping und der KPC über die Schriftzeichen. Auch nachdem die Behörden die Mauer innerhalb von drei Tagen zweimal neu gestrichen hatten, wurde sie noch mit neuen Kommentaren versehen. Zu den Sozialistischen Grundwerten gehören neben Wohlstand auch Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Harmonie. (Quelle: China Digital Times)

TOPICS

Umgang mit schweren Überschwemmungen um Beijing sorgt für Unmut

Die Fakten: Einige Kleinstädte in der Umgebung von Beijing kämpfen mit schweren Überschwemmungen. Nach dem Starkregen der vergangenen Tage leiteten die Behörden Flutwasser von der Hauptstadt in andere Regionen um, was bei den Betroffenen für Protest sorgte. Nach offiziellen Angaben aus Beijing stürzten infolge der Fluten etwa 59.000 Häuser ein, insbesondere in den hügeligen westlichen Vororten. Mehr als 30 Menschen sind gestorben, schätzungsweise 1,5 Millionen wurden in Sicherheit gebracht. Die von der Umleitung der Wassermassen betroffenen Gebiete dienten als "Auffangbecken" zum Schutz Beijings und der neuen Stadt Xiong'an, ein Prestigeprojekt Xi Jinpings, das südlich von Beijing gebaut wird.

Der Blick nach vorn: Die Unzufriedenheit über die Umleitung des Flutwassers sowie über mangelhafte Vorbereitung und Kommunikation hält an. Die Schäden durch die Überschwemmungen in den Städten, für Menschen, Unternehmen, Landwirtschaft und Ernten sind beträchtlich. Eine Erklärung des Parteisekretärs der Provinz Hebei, Ni Yuefeng, der Unterstützung für die Region zusagte, um die gesellschaftliche Gesamtstabilität zu gewährleisten, wurde gelöscht. Im Internet kritisierten Kommentatoren die Bevorzugung von Beijing und Xiong'an. Kritik an online verbreiteten Regierungsaufrufen zur „Verbreitung positiver Stimmung“ wurde zensiert.

MERICS Analyse: „Die Kritik der Bürgerinnen und Bürger zeigt das Risiko sozialer Verwerfungen auf, wenn die Regierung nicht besser vorbereitet ist, Naturkatastrophen im Zusammenhang mit dem Klimawandel zu bewältigen,“ sagt MERICS-Expertin Sophie Reiß.

Medienberichte und Quellen:

China feiert Eröffnung von Ableger der Hochschule Bielefeld auf Hainan

Die Fakten: Die Eröffnung eines Ablegers der Hochschule Bielefeld auf der Insel Hainan ist in China als Erfolg für die deutsch-chinesische Wissenschaftszusammenarbeit gefeiert worden. In Deutschland wurde das Projekt zuletzt selbst im Bundesforschungsministerium kritisch kommentiert, obwohl es mit Fördermitteln aus einem Programm für grenzüberschreitende Bildungskooperation gefördert wurde. In China wurde die Gründung der „Hainan Bielefeld University of Applied Sciences” (BiUH) begrüßt. Der Vize-Gouverneur von Hainan und ranghohe Vertreter der Regierung erschienen zur Gründungszeremonie. Eine Pressemitteilung der Provinzregierung nannte die Schule ein „Leuchtturm- und Vorzeigeprojekt für die vertiefte Zusammenarbeit zwischen höheren Bildungseinrichtungen in Deutschland und China“. Die traditionell ärmere Provinz bemüht sich darum, einheimische und internationale Bildungsträger anzusiedeln. Die neue Universität werde das Niveau der höheren Bildung in Hainan anheben helfen, und „eine wichtige Rolle darin spielen, anwendungsorientierte höhere Bildung“ in China bekannt zu machen, lobte ein chinesischer Kommentator. 

Der Blick nach vorn: Seit einer Revision der sogenannten Negativlisten für Auslandsinvestitionen im Jahr 2020 können nicht-chinesische Hochschulen eigenständig Zweigstellen in China eröffnen, wenn sie nicht Geistes- oder Sozialwissenschaften lehren. Das Gesetz des Freihandelshafens Hainan erlaubt explizit die Ansiedlung von Schulen aus den Bereichen „Wissenschaft, Ingenieurwesen, Landwirtschaft und Medizin“. Die private BiUH will nun im Herbst 140 Studierende aufnehmen, insgesamt sollen 12.000 Bachelor- und Master-Studierende dort lernen. Die Kurse sollen anwendungsorientiert sein, Studierende werden die Hälfte der Ausbildung bei einer Firma absolvieren. Duale Studiengänge sind eine deutsche Besonderheit, deutsche Unternehmen in Hainan haben sich bereit erklärt, BiUH-Studierende zu betreuen. Diese sollen auch in Bielefeld Zeit verbringen, sie erwerben allerdings chinesische Abschlüsse, die vom chinesischen Bildungsministerium geprüft werden. Die akademische Freiheit soll durch ein unparteiisches Schiedskomitee gewahrt werden.

MERICS-Analyse: „Ausgerechnet eine deutsche angewandte Hochschule eröffnet die erste Universität in China, die vollständig in ausländischem Besitz ist – und das in einer Zeit, in der die Politik über eine Risikominderung im Verhältnis zu China diskutiert,“ sagt MERICS-Expertin Antonia Hmaidi. „Als Hochschule mit Fokus auf Bachelor-Studiengänge sind Risiken der Wissenschaftsspionage als niedrig einzustufen. Allerdings überwiegen bei dieser Hochschulgründung die Vorteile für China und seine Führung gegenüber denen für Deutschland. Der Schritt unterstützt China in seinen Bemühungen um mehr technologische Eigenständigkeit, indem vor Ort westliche Ausbildung angeboten wird und dadurch die chinesischen Studierenden von unerwünschten westlichen Einflüssen ferngehalten werden.“

Medienberichte und Quellen::

Italiens Pakt mit China zur Neuen Seidenstraße vor dem Aus

Die Fakten: Aufgrund des Drucks aus Washington wird Italien voraussichtlich eine Vereinbarung von 2019 zur Zusammenarbeit im Rahmen der Neuen Seidenstraße (BRI) beenden. Äußerungen ranghoher italienischer Regierungsvertreter deuten darauf hin, dass sich Italien aus der Absichtserklärung zurückziehen wird, die im März 2024 automatisch verlängert würde. Italien war das erste (und einzige) G7-Land, das der Neuen Seidenstraße beitrat. In den vergangenen Monaten hat Beijing mehrere Abgesandte geschickt, um Italien zum Verbleib in dem Abkommen zu bewegen.

Der Blick nach vorn: Das Abkommen hat Italien wenig wirtschaftlichen Nutzen gebracht und manövrierte das Land in eine geopolitische Lage, in der jeder Schritt als Sieg für Beijing oder Washington gewertet wird. Premierministerin Georgia Meloni wartet mit der Ankündigung des Rückzugs möglicherweise bis nach ihrem geplanten Staatsbesuch in Beijing. Italienische Unternehmen fürchten nun negative Konsequenzen.

MERICS Analyse: Die Situation Italiens zeigt den Druck zur Positionierung angesichts der anhaltenden Rivalität zwischen den USA und China, selbst wenn es um symbolische Schritte geht. „Wie Italien versuchen gerade auch andere Staaten enge Beziehungen zu Washington aufrechtzuerhalten und gleichzeitig ihre Beziehungen zu Beijing nicht zu beschädigen. Diese Balance zu halten könnte zunehmend unmöglich werden,“ sagt MERICS-Expertin Francesca Ghiretti.

Medienberichte und Quellen:

REVIEW

Americaville von Adam James Smith

Eingebettet zwischen einer zerklüfteten Bergkette und einem ruhigen See liegt eine amerikanisch anmutende Blockhüttensiedlung. Doch was der Zuschauer hier sieht, ist nicht die unberührte amerikanische Wildnis, sondern eine Anlage, die den berühmten Ferienort Jackson Hole in Wyoming kopiert – am Stadtrand Beijings. Dies ist der Schauplatz von „Americaville“, einem Dokumentarfilm, der eine gut betuchte Chinesin auf der Suche nach ihrem „amerikanischen Traum“ bei Wochenendbesuchen am Rande der Hauptstadt begleitet.   

Der in den 2010er Jahren gedrehte Film von Regisseur Adam James Smith folgt Annie Liu, die in der gepflegten Umgebung der abgeschotteten, oasenartigen Wohnanlage Zuflucht vor der Hektik und dem Smog Beijings sucht. Nach einer anstrengenden Arbeitswoche und Pendelfahrten im Beijinger Verkehrschaos, entflieht sie jedes Wochenende ihrer stressigen Realität, um an diesem idyllischen Zufluchtsort Ruhe und Leichtigkeit zu finden – und wohin sie ihr Mann bemerkenswerterweise nie begleitet. In „Jackson Hole“ lebt Liu ihren „amerikanischen Traum“ und versucht, sich von den Fesseln der Gesellschaft, der Ehe und der Religion zu befreien, die sie alle auf unterschiedliche Weise nicht verstehen.  

Doch die kapitalistische Erfüllung, die dieser Lebensstil verspricht, befriedigt sie nie wirklich, was zeigt, dass diese Ausprägung von Xi Jinpings Chinatraum eine Farce ist. Smith führt Lius Entfremdung auf eine unglückliche Ehe und eine zu strenge religiöse Bindung zurück. Dabei verpasst er jedoch leider die Chance, die Auswirkungen der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas und des Staatskapitalismus auf seine Bürger zu thematisieren. Die Dissonanz zwischen den Bewohnern und dem Personal von Americaville auf der einen und der Gesellschaft auf der anderen Seite hätte näher beleuchtet werden müssen. 

Der Dokumentarfilm befasst sich zwar mit Fragen der chinesischen Identität und der Beziehung zwischen den USA und China, übergeht aber, wie diese durch die wachsende Spaltung in der chinesischen Gesellschaft verkompliziert werden. Es gibt Momente, die auf die ungleiche Konzentration von Reichtum und Macht in der Gated Community hinweisen – Arbeiter, die an Villen vorbeimarschieren und Gärten pflegen. Aber für Smith bleibt die Ungleichheit zwischen Arbeitern und Bewohnern ein zweitrangiges Thema. Vielleicht aus den gleichen Gründen, weshalb soziale Ungleichheit auch im Land des ursprünglichen Jackson Hole nachrangig bleibt.

Sie können den Dokumentarfilm ab September auf Vimeo VOD, Amazon und Kanopy sehen.

Rezension von Alexander Davey

MERICS China Digest

MERICS China Digest

Biden unterzeichnet Dekret zur Beschränkung von Tech-Investitionen in China (The Guardian)

US-Präsident Joe Biden hat ein Dekret unterzeichnet, das künftige US-Investitionen in chinesische Technologie einschränkt, insbesondere in sensiblen Hightech-Sektoren wie Halbleiter, Quantencomputer und künstliche Intelligenz. Die Beschränkungen werden voraussichtlich nächstes Jahr in Kraft treten. (23/08/10)

Xi eröffnet Beidaihe ohne Vorgänger, aber mit vielen Herausforderungen (Nikkei Asia)

Im Badeort Beidaihe in der Provinz Hebei hat sich die Führung der Kommunistischen Partei Chinas versammelt, um ihre jährlichen Gespräche über die Lage der Nation zu führen. Die informellen und geheimen Treffen werden wahrscheinlich die ersten in der Amtszeit von Xi Jinping sein, die ohne seine direkten Vorgänger stattfinden. (23/08/10)

Taiwanisches Chip-Unternehmen TSMC kommt nach Deutschland (TSMC) 

Gemeinsam mit den Partnern Bosch, Infineon und NXP plant TSMC, in die Dresdner European Semiconductor Manufacturing Company (ESMC) GmbH zu investieren, um fortschrittliche Halbleiterfertigungsdienstleistungen in Deutschland aufzubauen. Das Projekt ist im Rahmen des European Chips Act geplant. (23/08/08)

Ukraine-Konferenz in Dschidda (South China Morning Post)

Saudi-Arabien war Gastgeber einer zweitägigen Friedenskonferenz zur Ukraine. Unter den mehr als 40 teilnehmenden Ländern war auch China, vertreten durch den Sondergesandten für eurasische Angelegenheiten Li Hui. Ziel der Konferenz war es, den Friedensplan des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit den Positionen der Staaten abzustimmen, die eine neutrale Haltung zum Krieg eingenommen haben. Die Konferenz endete ohne eine gemeinsame Abschlusserklärung. Die anwesenden westlichen Länder bewerteten das Treffen jedoch positiv. (23/08/07)

Xi Jinping ersetzt Führung der PLA-Raketentruppen (South China Morning Post)

Xi Jinping hat zwei hochrangige Generäle entlassen, die an der Spitze der Raketentruppen der Volksbefreiungsarmee standen. Zur Entlassung von General Li Yuchao, seines Stellvertreter Liu Guangbin sowie seines früheren Stellvertreters Zhang Zhenzhong gab es keine öffentlichen Bekanntmachungen. Wang Houbin, der frühere stellvertretende Kommandeur der Marine, ist jetzt neuer General der Raketentruppen, während Xu Xisheng zum neuen politischen Kommissar ernannt wurde. Es ist ungewöhnlich, dass Xi den Kommandeur einer Kampftruppe und den politischen Kommissar gleichzeitig austauscht. (23/07/31)